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Änderung der Rechtsprechung zur Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens; Urteilsbesprechung RA Schröder

Auszug aus jurisPraxisreport 5/2013

Leitsätze
1. Derjenige, der vertragliche oder vorvertragliche Aufklärungspflichten verletzt hat,
ist beweispflichtig dafür, dass der Schaden auch eingetreten wäre, wenn er sich pflichtgemäß
verhalten hätte, der Geschädigte den Rat oder Hinweis also unbeachtet gelassen
hätte (Bestätigung von BGH, Urt. v. 16.11.1993 – XI ZR 214/92 – BGHZ 124, 151, 159
f.).
2. Diese Beweislastumkehr greift bereits bei feststehender Aufklärungspflichtverletzung
ein. Es kommt bei Kapitalanlagefällen nicht darauf an, ob ein Kapitalanleger bei
gehöriger Aufklärung vernünftigerweise nur eine Handlungsalternative gehabt hätte,
er sich also nicht in einem Entscheidungskonflikt befunden hätte. Das Abstellen auf
das Fehlen eines Entscheidungskonflikts ist mit dem Schutzzweck der Beweislastumkehr
nicht zu vereinbaren (Aufgabe von BGH, Urt. v. 16.11.1993 – XI ZR 214/92 – BGHZ
124, 151, 161).
3. Zur Pflicht des Tatgerichts, den von der Beklagten benannten Kläger als Partei zu
der Behauptung zu vernehmen, der Kläger hätte die Anlage auch bei Kenntnis von
Rückvergütungen erworben.
4. Zur Würdigung von Hilfstatsachen, die den Schluss darauf zulassen, der Anleger hätte
die empfohlene Kapitalanlage auch bei Kenntnis von Rückvergütungen erworben.
5. Zur Schätzung des entgangenen Gewinns, der nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge
mit einem anderen Anlagegeschäft erzielt worden wäre.
A. Problemstellung
Grundsätzlich muss jeder Kläger als Anspruchssteller die Ursächlichkeit der Pflichtverletzung für
den Schaden beweisen. Für Fälle in denen Aufklärungs-, Belehrungs- oder Hinweispflichten verletzt
wurden, hilft die Rechtsprechung den betroffenen Anspruchsstellern mit der so genannten „Vermutung
aufklärungsrichtigen Verhaltens“. Schon die dogmatische Grundlage dieser Vermutung
von und ihre Voraussetzungen waren und sind höchstrichterlich alles andere als unumstritten. So geht
der IX. Zivilsenat des BGH im Rahmen der Haftung von Rechtsanwälten und Steuerberatern diesbezüglich
von einem bloßen Anscheinsbeweis aus (BGH, Urt. v. 09.06.1994 – IX ZR 125/93; BGH,
Urt. v. 01.03.2007 – IX ZR 261/03 und BGH, Urt. v. 05.02.2009 – IX ZR 6/06). Bei der Haftung wegen
fehlerhafter Anlageberatung bzw. Anlagevermittlung geht der XI. Zivilsenat seit jeher von einer
echten Beweislastumkehr aus (BGH, Urt. v. 16.11.1993 – XI ZR 214/92; BGH, Urt. v. 14.05.1996 – XI
ZR 188/95; BGH, Urt. v. 07.05.2002 – XI ZR 197/01; BGH, Urt. v. 13.07.2004 – XI ZR 178/03; BGH,
Urt. v. 19.07.2011 – XI ZR 191/10). Demgegenüber vertritt der III. Zivilsenat die „Figur“ einer Beweiserleichterung
und hat die Frage, ob man von einer „echten Beweislastumkehr“ ausgehen könne,
ausdrücklich offengelassen hat (BGH, Urt. v. 09.02.2006 – III ZR 20/05).
Geht man von einer Beweislastumkehr aus, hat der Aufklärungspflichtige die Nichtursächlichkeit
seiner Pflichtverletzung zu beweisen, d.h. er muss darlegen und beweisen, dass der Anleger auch
bei gehöriger Aufklärung den Vertrag so wie geschehen geschlossen hätte. Interpretiert man die
„Figur“ des aufklärungsrichtigen Verhaltens dagegen als Beweiserleichterung im Sinne eines Anscheinsbeweises,
hat der Aufklärungspflichtige die auf die Lebenserfahrung gestützte tatsächliche
Vermutung, der Anleger hätte sich gegen einen Vertragsschluss entschieden, zu entkräften.
Er muss Anhaltspunkte darlegen, die dafür sprechen, dass der Geschädigte sich auch bei richtiger
Aufklärung für den Vertrag entschieden hätte. Die hier besprochene Entscheidung leistet einen
wichtigen dogmatischen Beitrag und stellt praxisrelevante Maßstäbe für die notwendige Substantiierung
des Sachvortrags für den Beweisantritt auf.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Entscheidung des BGH lag der Fall eines Klägers zugrunde, der einen so genannten Medienfonds
gezeichnet hatte und u.a. reklamierte, dass er über die im Zusammenhang mit der Empfehlung
geflossene Vertriebsprovision nicht aufgeklärt wurde. Das Landgericht hatte der Klage weitgehend
stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat die Entscheidung im Kern gehalten. Der BGH hat
die Sache an das Oberlandesgericht zurückverwiesen, um den Kläger als Partei zu der Behauptung
der Beklagten zu hören, dass der Anteil, den die Beklagte an den im Prospekt ausgewiesenen Vertriebsprovisionen
erhalten hat, für die Anlageentscheidung ohne Bedeutung war (fehlende Kausalität).
Der XI. Zivilsenat des BGH beginnt seine umfangreichen Ausführungen zur Kausalität mit der
Feststellung, dass die sog. Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens für alle Aufklärungs- und
Beratungsfehler eines Anlageberaters gelte, insbesondere auch bei verschwiegenen Rückvergütungen.
Der Senat bekräftigt sodann seine Rechtsprechung aus der Vergangenheit, wonach
es sich bei dieser Vermutung „nicht lediglich um eine Beweiserleichterung im Sinne eines Anscheinsbeweises,
sondern um eine zur Beweislastumkehr führende widerlegliche Vermutung
handle“ (Besprechungsurteil LS 1 und Rn. 29).
In der Vergangenheit hatte der XI. Zivilsenat diese Beweislastumkehr allerdings davon abhängig
gemacht, dass es für den geschädigten Anleger nicht mehrere, sondern vernünftigerweise nur eine
Möglichkeit aufklärungsrichtigen Verhaltens gab, mithin die gehörige Aufklärung beim geschädigten
Anleger keinen Entscheidungskonflikt ausgelöst hätte. Diesen Entscheidungskonflikt hatte
nach Auffassung des Senats stets die Bank darlegen und beweisen müssen. An der vorgenannten
Einschränkung der Kausalitätsvermutung hält der Senat mit dieser Entscheidung ausdrücklich
nicht mehr fest (LS 2 und Rn. 33). Das Abstellen auf das Fehlen eines Entscheidungskonfliktes sei
mit dem Schutzzweck der Beweislastumkehr nicht zu vereinbaren, womit die Beweislastumkehr
daher bereits bei feststehender Aufklärungspflichtverletzung eingreife. Unter wiederholter Berufung
auf Canaris (Canaris in: Festschrift Hadding, 2004, S. 3, 23) betont der Senat, dass die Unaufklärbarkeit
auch in Fällen eines Entscheidungskonfliktes die beratende Bank zu tragen hat, da der
Zweck der Aufklärungspflichten darin bestehe, dem Anleger eine sachgerechte Entscheidung über
den Abschluss bestimmter Geschäfte zu ermöglichen. Die grundsätzliche Beweislast wurde vom
Landgericht und OLG Frankfurt am Main im vorliegenden Fall auch zutreffend gesehen.
Der Revision wird jedoch vom BGH insoweit Recht gegeben, als das Landgericht und Oberlandesgericht
den Vortrag der Beklagten – gerichtet auf die Ursächlichkeit der Pflichtverletzungen – nicht
als unbeachtlich ansehen durften und die angebotenen Beweise hätten erheben müssen. Die Beklagte
hatte beantragt, den Kläger als Partei (§ 445 Abs. 1 ZPO) für seine Behauptung zu hören,
dass der Anteil, den sie aus den im Prospekt ausgewiesenen Vertriebsprovisionen erhalten hat,
für die Anlageentscheidung ohne Bedeutung gewesen sei. Der Senat kommt nach der Würdigung
des Vortrags der Beklagten zu dem Ergebnis, dass weitere Einzelheiten oder Erläuterungen zur
Substantiierung dieses Beweisantrages nicht erforderlich waren (Rn. 38 bis 41). Danach reiche es,
dass dem Beklagtenvortrag zu entnehmen ist, der Kläger hätte die Anlage auch bei Kenntnis von
Rückvergütungen erworben. Weitere Einzelheiten oder Erläuterungen zur Substantiierung des Beweisantrages
seien nicht erforderlich. Für den Antrag der beklagten Bank auf Parteivernehmung
des Klägers nach § 445 Abs. 1 ZPO genüge es also, wenn die Bank vorträgt, weshalb die Pflichtverletzung
für den Schaden nicht ursächlich war.
Ein unzulässiger Ausforschungsbeweis liege nicht vor, solange die Bank Anhaltspunkte vortrage,
welche einzeln oder in ihrer Gesamtschau gegen die Ursächlichkeit der Pflichtverletzung sprechen.
Der Tatrichter habe insoweit in die Beweisaufnahme einzutreten unabhängig davon, wie wahrscheinlich
das Vorbringen sei. Dies gelte nicht nur für den Zeugenbeweis, sondern auch – wie vorliegend
– für die Parteivernehmung. Da der Beklagten kein unmittelbares Beweismittel für die Beweisführung
zur Verfügung stand, sei der Grundsatz der Subsidiarität der Parteivernehmung nicht
verletzt. Insbesondere sei auch kein vorheriger sonstiger Beweis oder die Wahrscheinlichkeit der
unter Beweis gestellten Behauptung erforderlich.
In der Folge setzt sich der BGH damit auseinander, ob der Beweisantrag der Beklagten nicht doch
als „unbeachtlicher Beweisermittlungsantrag“ zu würdigen sei. Ein Missbrauch zur Ausforschung
liege bei der Parteivernehmung immer besonders nahe, aber tatsächlich erst dann vor, wenn der
Beweisführer ohne greifbare Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhaltes willkürlich
Behauptungen „aufs Geratewohl“ oder „ins Blaue hinein“ aufstellt. Da die Beklagte Anhaltspunkte
vorgetragen habe, die nach deren Auffassung zumindest in der Gesamtschau dafür
sprechen, dass der Kläger auch in Kenntnis der Rückvergütungen die streitgegenständliche Anlage
gezeichnet hätte, sei eine Ausforschung zu verneinen. Vorgetragen hatte die Beklagte u.a., dass
das Anlageziel des Klägers die „Steuerersparnis“ und allenfalls noch „Renditechancen und das Sicherungskonzept
der Schuldübernahme“ gewesen seien. Auch habe der Kläger nach dem Vortrag
der Beklagten bereits zuvor eine Beteiligung an einem Fonds in Kenntnis von Provisionszahlungen
an die beratende Bank erworben.
Nachfolgend prüft der BGH, ob der von der beklagten Bank angebotene Beweisantrag auf Vernehmung
des Beraters zu Motiven des Klägers, betreffend die streitgegenständliche Anlage und sein
vorheriges Anlageverhalten, hätten nachgegangen werden müssen. Der Tatrichter müsse und dürfe
bei einem solchen Indizienbeweis vor der Beweiserhebung prüfen, ob die vorgetragenen Indizien
– ggf. bei mehreren Indizien auch in der Gesamtschau – bei unterstellter Richtigkeit ihn von
der Wahrheit der Haupttatsache überzeugen würden (Schlüssigkeit des Indizienbeweises). Obwohl
diese Schlüssigkeitsprüfung des Tatrichters nur eingeschränkt nachprüfbar ist, kommt der BGH zur
Beanstandung der Erwägungen des Berufungsgerichts. [……]

AUSLASSUNG

Gleiches soll gelten, wenn der Anleger an vergleichbaren
Kapitalanlagen, die er vor oder nach den streitgegenständlichen erworben hat, festhält, obwohl
er zwischenzeitlich Kenntnis zu den jeweiligen Rückvergütungen erlangt hat (ebenfalls unter
Verweis auf BGH, Urt. v. 19.07.2011 – XI ZR 191/10). Auch die Behauptung, dass es dem Kläger
vorrangig auf eine Steuerersparnis ankam, die nur mit der gegenständlichen Anlage oder mit
vergleichbar provisionierten Anlagen zu erreichen war, sei ein schlüssiges Indiz. Die vorerwähnten
Hilfstatsachen sind also nach Auffassung des BGH nicht nur im Rahmen der Beweiserhebung, sondern
auch bei der Beweiswürdigung zu beachten.
Grundsätzlich gilt, dass, wenn ein Zeuge zum Beweis einer nicht in seiner Person eingetretenen
inneren Tatsache benannt wird, ein derartiger Beweisantrag nur dann erheblich ist, wenn die Umstände
schlüssig dargelegt sind, aufgrund deren er Kenntnis von der inneren Tatsache erlangt hat
(vgl. BGH, Urt. v. 29.03.1996 – II ZR 263/94). Ohne Darlegung, dass bzw. aufgrund welcher Umstände
einem Berater Angaben zu der Willensbildung der Klägerin und des Zedenten möglich sein
sollten, wird einem solchen Antrag nicht nachzugehen sein, zumal wenn es sich bei benannten Beratern
nicht um den mit der in Rede stehenden Beratung befassten Berater handelt (OLG Düsseldorf,
Urt. v. 30.10.2012 – I-1 U 36/12).

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